„In Bonn ist Transparenz angesagt“. Die Flick-Affäre als Indikator und Katalysator des Wandels 1975-1987
Die Studie hatte es sich zum Ziel gesetzt, zentrale Annahmen zur historischen Genese der Transparenznorm aus den Nachbardisziplinen, wie u.a. der Soziologie und der Politikwissenschaft, durch eine Fallstudie einer historischen Überprüfung bzw. Detailanalyse zu unterziehen. Die Flick-Affäre bietet sich dabei aus mehreren Gründen als Fallbeispiel an. Zum einen ist bisher keine wissenschaftliche Monografie zur Flick-Affäre erschienen. Zum anderen verorten die bisherigen Versuche der Historisierung von Transparenz den Beginn ihres Siegeszugs in die 1970er und 1980er Jahre. Die Grundannahme lautet, dass die Flick-Affäre als Indikator und Katalysator des Bedeutungsgewinns von Transparenz als politischem Ziel wirkte, in einer Zeit der Krisendiagnose und Unsicherheit, in der sich erstens gesellschaftliche Erwartungen an die Politik wandelten, zweitens neue Akteure auf die politische Bühne traten, die ein neues Demokratieverständnis repräsentierten und drittens vorhandene Instrumente demokratischer Kontrolle zu nutzen wussten, viertens Massenmedien zunehmend pauschalisierend und moralisierend über (vermeintliche) Korruption klagten sowie fünftens Politik zunehmend moralisierend betrachtet wurde. Methodisch nahm diese Arbeit die Grundannahmen der kritischen Transparenzforschung auf und verknüpfte sie mit einer kulturgeschichtlichen Analyse von Korruptions- und Skandaldebatten.
Die Studie bietet nicht nur zahlreiche Erkenntnisse zur Genese des Transparenzideals und zu dessen Bedeutungen und Funktionen im Skandaldiskurs und darüber hinaus, sondern liefert auch Ergebnisse für ein besseres Verständnis der politischen Kultur der späten Bonner Republik. Dabei ermöglicht sie zudem Rückschlüsse auf gegenwärtige Debatten.
Zunächst hat sich gezeigt, dass die Enthüllungen im Spiegel eine wichtige Skandalbedingung waren. Dabei ging es nicht nur darum, dass Normverstöße öffentlich wurden, da diese teilweise bereits bekannt waren. Die Veröffentlichung von vertraulichen Originaldokumenten, aber auch des geheimen Amnestieentwurfs, sorgten dafür, dass diese Praktiken nicht mehr hingenommen wurden und führten zu einer umfassenden Skandalisierung. Es hat sich jedoch gezeigt, dass es in der Flick-Affäre auch zu einer Skandalisierung medialer Praktiken kam. Während die Journalisten betonten, sie hätten der Öffentlichkeit Zugang zu authentischen Informationen ermöglichen wollen, sahen die Beschuldigten in der Flick-Affäre sowie deren Parteien und Unterstützer darin eine Vorverurteilung und in dem Bruch der Vertraulichkeit eines Ermittlungsverfahrens eine Gefährdung der Gewaltenteilung. Ein Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags versuchte zwar aufzuklären, wie die vertraulichen Ermittlungsakten in die Hände der Presse gekommen waren, schreckte aber letztlich davor zurück, das Zeugnisverweigerungsrecht der Journalisten zu missachten. Der ungeklärte Ursprung der Leaks sorgte bereits während des Skandals für zahlreiche Spekulationen, Beschuldigungen und Verschwörungstheorien.
Die Veröffentlichungen und die Debatte über deren Legitimität und rechtlichen Implikationen wirkte sich auch auf die Justiz aus, die sich in ihrer Ermittlungstätigkeit eingeschränkt sah und die Indiskretionen im Umfeld der Beschuldigten vermutete. Vor einschneidenden Maßnahmen, wie einer Beschlagnahmung von Spiegel-Ausgaben, sah man jedoch ab. Schließlich hat die Debatte über die massenmedialen Enthüllungen gezeigt, dass der Stellenwert von Informationen im Zusammenhang mit der Forderung nach mehr Transparenz sinken kann und das Framing und die Etablierung überzeugender Narrative im Diskurs an Bedeutung gewinnen. Hier zeigt sich beispielhaft, warum in einer Informationsgesellschaft unter dem Primat der Transparenz Fehlentwicklungen, wie Fake News, Desinformation oder der Vorwurf der Lügenpresse, zunehmen und die Debatten dominieren. Dass auf diese Entwicklung mit weiteren Transparenzforderungen reagiert wird – vor allem gegenüber den Medien – zeigt, dass die eigentliche Problemlage nicht erkannt und das Potential der Transparenz, Misstrauen zu beseitigen, überschätzt wird.
Die Studie hat zudem gezeigt, dass die Flick-Affäre eine seit den 1970er Jahren zunehmend parteienkritische Haltung verstärkt hat. Auffällig war insbesondere die Härte der Parteienkritik, die sich während des Skandals zeigte, und die sich von Korruptionsdebatten der Nachkriegszeit unterschied. Die Parteien begegneten dieser Kritik mit mahnenden Verweisen auf die Weimarer Republik und betonten ihre Verdienste für die Demokratie. Auch inhaltlich hatte sich die Parteienkritik seit den 1970er Jahren verändert. Es stand nicht mehr der Vorwurf im Mittelpunkt, die Parteien würden Partikularinteressen vertreten. Vielmehr war die vermeintliche Gleichsetzung der Parteien mit dem Staat oder dem Gemeinwohl Kern der Vorwürfe. Die Finanzierung der Parteien bot dafür den geeigneten Ausgangspunkt. Die Skandaldebatte der Flick-Affäre ist Indikator dieses Wandels und verstärkte diesen gleichzeitig.
Die zentrale Rolle der Parteien in der Demokratie wurde in Frage gestellt und das Repräsentationsprinzip als unzureichend problematisiert und andere Formen der demokratischen Partizipation gewannen an Popularität, die der französische Historiker Pierre Rosanvallon unter dem Begriff der „Gegen-Demokratie“ zusammengefasst hat. Die durch Transparenz ermöglichte Überwachung und Kontrolle der Herrschenden und die Überprüfung ihrer moralischen Integrität als Ausgleich der Defizite der repräsentativen Demokratie bekam eine größere Bedeutung. Diese Entwicklung hat sich bis in die Gegenwart weiter beschleunigt.
Es hat sich zudem gezeigt, dass die Betonung der individuellen Moral an Bedeutung gewann. Dem juristischen Urteil wurde das moralische Urteil an die Seite gestellt. Die wachsende Moralisierung des politischen Diskurses wurde von den Zeitgenossen wahrgenommen und kritisch reflektiert. Transparenz erschien dabei als moralisch positiv konnotierter Begriff und wurde dem moralischen Urteil der Korruption sowie der verdächtigen Geheimhaltung oder Anonymität gegenübergestellt.
Der Korruptionsvorwurf, von dem in der frühen Bundesrepublik nur zaghaft Gebrauch gemacht wurde, war in der Flick-Affäre ein gängiges Element der Presseberichterstattung sowie der politischen Auseinandersetzung. Die Normalisierung des Korruptionsvorwurfs lässt sich dabei auch als Teil der Etablierung der westdeutschen Demokratie verstehen (Wirsching spricht vom Ende des Provisoriums in den 1980er Jahren). Der Skandaldiskurs der Flick-Affäre zeigte eine Bewusstseinsänderung an, nach der die Bundesrepublik mittlerweile als eine normale westliche Demokratie verstanden wurde, in der es selbstverständlich auch Korruption gäbe. Typische Abwehrreflexe und Verweise auf vermeintliche „Bananenrepubliken“ waren dennoch vorhanden.
Der Flick-Untersuchungsausschuss war auf Grund seiner prominent besetzten Zeugenliste einer der bedeutendsten Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestags. Er war ein Mittel der Skandalbewältigung durch Aufklärung und Selbstreinigung und lässt sich als eine Form von institutionalisierter Transparenz verstehen. Nicht wenige versprachen sich von dem Ausschuss eine Klärung der Frage, wie es wirklich gewesen ist. In der Praxis war die Ausschussarbeit und ihr Zusammenhang mit dem ausgegebenen Ziel der Transparenz jedoch komplexer. Vor allem die Aktenbeiziehung stellte den Untersuchungsausschuss wegen des Steuergeheimnisses und parallel laufender strafrechtlicher Ermittlungen vor große Schwierigkeiten. Zudem verweigerten zahlreiche Zeugen die Aussage oder beriefen sich auf Erinnerungslücken. In der damaligen Debatte wurde dies teilweise als Einschränkung der durch den Ausschuss ermöglichten Transparenz problematisiert. Erst ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Aktenbeiziehung im Sommer 1984 erweiterte die Rechte des Ausschusses.
Derweil wurde die Öffentlichkeit durch die mediale Berichterstattung ausführlich über die Ausschussarbeit informiert. Mit detaillierten Beschreibungen des Verhaltens der Anwesenden versuchte die Presse, die fehlenden Bild- und Tonmitschnitte zu kompensieren. Die öffentliche Bühne des Ausschusses wurde von den Beteiligten teilweise dafür genutzt, sich als transparent darzustellen. Sie bot zudem durch selektive Zeugenaussagen die Gelegenheit, eine Art Gegentransparenz herzustellen. Das Etablieren der eigenen Narrative spielte eine zentrale Rolle bei der Arbeit des Untersuchungsausschusses. Daher betonten die beteiligten Akteure der Parteilinie entsprechend vor allem die Informationen, die diese unterstützten. Der Einfluss der Parteipolitik auf die Aufklärungsarbeit bot den GRÜNEN einen weiteren Angriffspunkt gegenüber den anderen Parteien, während diese die Arbeit des Untersuchungsausschusses positiv bewerteten.
Neben dem Untersuchungsausschuss lassen sich die Reformen der Parteienfinanzierung und der Verhaltensregeln für Abgeordnete als ein weiteres Mittel der Skandalbewältigung identifizieren. Dabei wurden zahlreiche argumentative Parallelen deutlich sowie zentrale Funktionsmechanismen von Transparenz und Transparenzforderungen offensichtlich. In beiden Fällen zeigte sich, dass die Forderungen nach mehr Transparenz in der Akutphase des Skandals dazu dienten, der öffentlichen Empörung zu begegnen. Mit der Zeit und abnehmender öffentlicher Aufmerksamkeit wurden diese Forderungen zumeist entschärft. Beispielhaft war die Forderung Heiner Geißlers nach Abgeordneten mit „gläsernen Taschen“, die bereits sehr früh relativiert wurde. Es wurde zudem deutlich, dass Transparenz dazu diente, unpopuläre Entscheidungen zu kompensieren. Gleichzeitig erschienen Transparenzregeln als vergleichsweise mildes Mittel, um etwa das komplette Verbot von Nebentätigkeiten oder Parteispenden zu vermeiden.
2a) Flick-Skandal (ca. 1981-1985): Transparenzforderung und neue Akteure
2b) L’affaire Urba (vers 1989-1993), un régime de transparence en France?
Die zweite Forschungslinie ist großen Skandalen des späten 20. Jahrhunderts gewidmet. Dem liegt die Hypothese zugrunde, dass zwischen 1970/1990 neue Transparenzforderungen formuliert wurden. Besonderes Augenmerk gilt den Akteurskonstellationen, insbesondere dem Erstarken zivilgesellschaftlicher, außerparlamentarischer Gruppen sowie der Rolle der Presse. Wir gehen also davon aus, dass Skandalisierung nach ca. 1970 etwas anderes bedeutete als zuvor. Transparenzforderungen gingen nun zunehmend von Akteuren aus, die zuvor so gut wie keine Rolle gespielt hatten. Wir konzentrieren uns auf die vergleichende Analyse von zwei Affären in Deutschland und Frankreich, die nicht nur auf den wachsenden Einfluss dieser Akteure verweisen, sondern auch aus einer ähnlichen Problematik entstanden: Die Flick-Affäre (ca. 1981-1985) und die Affäre Urba (ca. 1989-1993). In beiden Fällen ging es um die Aufdeckung illegaler Parteienfinanzierung, beide Fälle führten zu Reformen des Parteienrechts, die mehr öffentlich zugängliche Rechenschaft, mehr Offenlegungspflichten vorsahen.
In beiden Fällen tauchten detaillierte, tagebuchartige Aufzeichnungen zentraler Personen über die illegalen Finanzierungspraktiken auf (die sog. „Tageskopien“ von Flick-Manager Eberhard von Brauchitsch und die „Cahiers de Joseph Delcroix“ vom Parti Socialiste). Über die Medien wurden diese Dokumente der Öffentlichkeit teilweise im Wortlaut zugänglich. Auch dies ermöglichte eine neue Dimension von Transparenz: Nun wusste jedermann, wie die geheimen Begegnungen von Politikern und Geldgebern abgelaufen waren; es gab einen scheinbar direkten Blick in die ‚Hinterzimmer‘ der Politik.
Die Forderung nach Transparenz ging Ende der 1980er Jahre einher mit einer neuen Rolle für zusätzliche Akteure, die von der fortschreitenden Medialisierung des Politischen profitierten. Die Affaire Urba stellt in diesem Sinne einen Wendepunkt dar, in dem Polizisten und Justizangehörige zunehmend aus ihrer ursprünglichen Rolle hinaustraten und neben ihrer institutionellen, eine medial vermittelte Legitimität für ihr Handeln erreichten, und zwar einerseits durch die Medialisierung ihrer Aktionen (von Kameras begleitete Durchsuchungen) und andererseits durch ihren Status als öffentlich auftretende Experten. Seitdem hat sich diese Tendenz noch verstärkt, etwa durch den Einfluss des Internets.
In der Flick-Affäre spielten staatsanwaltschaftliche Ermittlungen ebenfalls eine zentrale Rolle, und alle Versuche der Politik, diese zu stoppen, blieben fruchtlos. In Deutschland bekamen dagegen in erster Linie zivilgesellschaftliche Akteure eine neue Rolle – auch dank ihres Sprachrohrs. Zu Beginn der 1980er Jahren verstand sich die Partei Die Grünen noch als Sammlungsbewegung von Bürgerinitiativen und als Anti-Parteien-Partei. Zwar hatte sie mittlerweile Vertreter im Bundestag, doch übernahmen die Grünen die Rolle der außerparlamentarischen, zivilgesellschaftlichen Opposition. Sie artikulierten einen Gegensatz zwischen dem Bonner Establishment und der breiten Bevölkerung. Das Forschungsprojekt versteht sich somit als Beitrag zur unmittelbaren Zeitgeschichte.
Damit hatten die deutsche und die französische Öffentlichkeit einen Grad an Information, der erst heute in Zeiten von Wikileaks wieder erreicht wird (wobei aktuell oft zehntausende Seiten geheimer Dokumente ins Internet gestellt werden). Im Sinne der kritischen Transparenzgeschichte werden wir die Frage stellen, ob dieses außerordentliche Maß an Transparenz das Vertrauen in Justiz und Behörden steigern half, oder ob das Gegenteil eintrat.
Beide Fälle sind in der Geschichtsschreibung des jeweiligen Landes bekannt, beide gelten als wichtige Ereignisse der politischen Geschichte. Beide sind erstaunlicherweise bisher noch nicht Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Monographien geworden.